Sonntag, 24. Februar 2019

Jelly Roll Morton: Sidewalk Blues II

Hallo Freunde,

Versprechen soll man halten. Es ist schon eine Weile her, dass ich Euch einen zweiten Beitrag zum "Sidewalk Blues" angekündigt habe, dem brühmten Stück von Jelly Roll Morton. Das war am 14. Mai 2016. Damals habe ich einige Strukturprinzipien durch den Verglaich des "Sidewalk Blues" mit "The Pearls" herausgearbeitet. Heute soll es nun um die Frage gehen: war der "Sidewalk Blues"  ein Plagiat? Das jedenfalls behauptet der Kornettist Lee Collins, der 1924 den "Fish Tail Blues", der in Teilen identisch mit dem "Sidewalk Blues" ist,  gemeinsam mit Morton aufnahm und die Komposition für sich reklamiert. Als Komponisten des "Fishtail Blues" wurden Collins und Morton - in dieser Reihenfolge - auf dem Plattenaufkleber gemeinsam genannt. Als Komponist des "Sidewalk Blues" erscheint nur noch Morton (dazu als Texter Walter Melrose).

Am besten ist in solchen Fällen eine gründliche Analyse, um zumindest zu einer Wahrscheinlichkeit zu kommen. Der "Fish Tail Blues" besteht im wesentlichen aus drei Teilen: zwei zwölftaktigen Bluesteilen und einem 32-taktigen Trio, das dem Stück seinen unverkennbaren Charakter verleiht.
Dazu kommt ein reizvolles Intro aus drei Instrumentalbreaks. Sie werden im "Fish Tail Blues" der Posaune gegeben, im "Sidewalk Blues" auf Posaune, Kornett und Klarinette aufgeteilt. Vor dem Trio findet sich eine Bridge, die den Tonartwechsel einleitet und sich ebenfall im "Sidewalk Blues" vom "Fish Tail Blues" unterscheidet. Sowohl Intro als auch Interludium können wir in unserer Analyse vernachlässigen.

Kommen wir zum ersten Bluesteil: die ersten acht Takte erscheinen mir für Morton nicht typisch. Sie können also durchaus von Collins komponiert sein. Die vier Schlusstakte klingen allerdings typisch Jelly-like. Man kennt diese Art des Schlussteils etwa aus dem "London Blues" oder dem "Dead Man Blues", beide von Morton vor 1924 komponiert - auch wenn der "Dead Man Blues" erst 1926 zum Copyright angemeldet wurde. Typisch für Morton auch, dass diese abschließende Sequenz in jedem Chorus wiederholt wird. In der späteren Version als "Sidewalk Blues" hat Morton die Eingangsphrase - melodisch, nicht rhythmisch - verändert: sie baut - aufsteigend - auf der Quinte, der Sexte und dem Grundton auf. Dieser melodische Aufbau findet sich bei Morton wiederholt: etwa beim Klarinetten-Trio im "Dead Man Blues" oder in der Eingangsphrase von "Soap Suds", beide 1926 mit Band eingespielt. Auch die vier Schlusstakte sind neu geschrieben.

Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Bluesteil. Die ersten acht Takte können wiederum von Collins stammen. Die Schlusssequenz ist dagegen wiederum - siehe oben - typisch Jelly. Auch hier ist aber festzustellen: der zweite Blues wurde für die Version "Sidewalk Blues" ab Takt fünf verändert.

Bleibt das Trio. Hier sei ein kurzer Abstecher zu dem Stück "Someday Sweetheart" vorausgeschickt, einem der großen Hits der 20er Jahre, von Morton zweimal aufgenommen. Der Titel wurde von den Brüdern John und Benjamin Spikes zum Copyright angemeldet, mit denen Morton während seiner ersten Zeit an der Westküste zusammenarbeitete. Morton hat zwar nicht für sich reklamiert, an der Komposition unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Er will aber die Brüder auf das Thema "Tricks Ain`t Walkin`No More" des Pianisten Kid North hingewiesen haben, das John und Benjamin dann für die Verse des Songs verwendeten. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass Morton sich intensiv mit "Someday Sweetheart" beschäftigt hat. Vergleicht man nun die Harmoniefolgen des Trios von
"Fish Tail Blues" bzw. "Sidewalk Blues" mit dem Chorus von Someday Sweetheart, ergeben sich  Parallelen in den Takten 1-16. Ich habe die Harmonien von "Someday Sweetheart" in die obere, die vom "Sidewalk Blues" in die untere Zeile geschrieben:

Ab/Ab6          /Ab/F7/Bb7/Eb7/Ab6 A0/Eb7/Ab6/Ab6 A0/CM/CM/GM7/GM7  /CM/CM
Ab/C7 Cm7-5/F7/F7/Bb7/Eb7/Ab        /Eb7/Ab  /Ab6 A0/CM/CM/G7   /A0 G7/CM/Eb7

Die Verwandtschaft der beiden Harmoniestränge scheint mir evident.Natürlich ist es denkbar, dass Lee Collins das Trio des "Fish Tail Blues" auf diesen Harmonien aufgebaut hat, er also Komponist auch des Trios ist. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass Jelly Roll Morton mit der Harmoniefolge experimentiert und daraus das Trio entwickelt hat.

Meine Analyse führt zu folgendem Ergebnis: der erste und der zweite Bluesteil des "Fish Tail Blues" dürfte jeweils bis Takt acht Lee Collins zuzuschreiben sein. Morton hat den Schluss beigesteuert. Für den "Sidewalk Blues" hat Morton die beiden Bluesteile einer Revision unterzogen. Das Trio, das in beiden Fassungen fast unverändert das Stück trägt und prägt, möchte ich Morton zuordnen. Dies sind natürlich nur Indizien, keine Beweise. Jedenfalls hat Lee Collins  in jedem Fall die Miturheberschaft auch beim "Sidewalk Blues" verdient. Unabhängig davon, wer von den beiden Musikern welchen Anteil hatte, "Fish Tail Blues" und "Sidewalk Blues" sind einfach schöne Titel.......

www.ok-jazzband.de

Soviel für heute.
Herzlich Euer
Heribert von Stomp

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