Samstag, 14. Mai 2016

Jelly Roll Morton: Sidewalk Blues

Hallo Freunde,

Jelly Roll Morton`s "Sidewalk Blues", aufgenommen am 21. September 1926 mit seinen "Red Hot Peppers" in Chicago, zählt sicherlich zu den perfektesten Einspielungen des Meisters. Mit seinen arrangierten Passagen steht der Titel an der Schnittstelle zwischen New-Orleans-Jazz und aufkommender größerer Besetzung - von Big Band will ich noch nicht reden - und den dazugehörenden Bläsersätzen. Insgesamt dominiert der Eindruck einer klassischen New-Orleans-Einspielung. Der von den Blechbläsern intonierte Trio-Satz klingt erdig, die Wiederholung durch die Klarinetten tendiert ebenfalls in Richtung New Orleans. Wären anstelle der Klarinetten drei Saxophone zum Einsatz gekommen, dann hätte sich dieser Eindruck, so glaube ich, mehr in Richtung "kleiner Big Band" verschoben. Man kann das ja mal ausprobieren.
Obwohl also der "Sidewalk Blues" mit seiner perfekten Satzarbeit, den beiden sicher intonierten Soli von George Mitchell (co) und Omer Simeon (cl) sowie dem genialen Background-Piano Morton`s zu den Highlights seines Schaffens gehört, hat der Titel es nie zu einem Standard im Jazzrepertoire geschafft. Das mag mit der oben skizzierten Zwitterstellung zu tun haben. Letztlich entfaltet sich die für den New-Orleans-Jazz typische Polyphonie nur in den jeweils letzten acht Takten des Trios und seiner Wiederholung. Dagegen ist auch der Polyphonie des unmittelbar auf Mitchell`s Kornett-Solo folgenden Kollektivs anzumerken, dass sie nicht spontan entwickelt ist, sondern auf einem vorgegebenen Arrangement basiert.
Der Bausatz des "Sidewalk Blues" erscheint auf den ersten Blick untypisch für Morton`s Schaffen mit den "Red Hot Peppers". Die beiden schon erwähnten Soli finden sich im ersten Teil der Aufnahme. (Das den Titel eröffnende, über einem Off-Beat liegende Kornett-Solo dient der Vorstellung es ersten Themas). Dagegen gibt es keine Soli im Trio-Teil. Dies führt dazu, dass die Aufnahme nicht einem finalen Höhepunkt entgegenstrebt. Beim "Black Bottom Stomp" und "The Chant" etwa ist genau dies der Fall. Hier steigert sich die Band nach den jeweils unbegleiteten Piano-Solos in zwei sich übertrumpfenden Schluss-Chorussen zum polyphonen Höhenrausch mit jeweils zweitaktigem verlängertem Schluss. Dagegen wirkt der "Sidewalk Blues" eher gleichförmig ausgewogen. Dazu trägt auch die insgesamt dreimal gespielte, arrangierte zweitaktige Schlussphrase bei. Der kollektive Höhenrausch wird hier durch kontrollierte Ensemble-Inszenierung ersetzt.
Dieses Konzept entspringt keiner zufälligen Laune, wie sich aus den vorausgehenden Darlegungen leicht erkennen lässt. Dies zeigt sich auch daran, dass Morton dieses Prinzip bei einer weiteren Aufnahme fast identisch umgesetzt hat. Die Rede ist von "The Pearls", aufgenommen am 10. Juni 1927. Auch hier der Beginn mit einem Off-Beat-Kornett-Solo (wieder von George Mitchell). Auch in diesem Fall stellt das Kornett den komponierten ersten Teil des Stückes vor. Der zweite Teil wird in kollektiver New-Orleans-Polyphonie gespielt, lehnt sich aber ebenfalls eng an ein vorgegebenes Arrangement an.
Dann folgt ein Altsaxophon-Solo (Stump Evans). Das Trio wird zweimal kollektiv, aber arrangiert gespielt - mit leichten Variationen in der Wiederholung. Und auch hier der langgezogene, kontrollierte Schluss. Kein Wunder, dass auch diese Aufnahme nicht das Feuer der oben genannten Beispiele "Black Bottom Stomp" und "The Chant" entfacht. Aber, so zeigt sich, dies ist gewollt. Kein Wunder auch, dass "The Pearls" zwar zu Jelly`s berühmtesten Kompositionen gehört, aber nie ein wirklicher Standard im Repertoire klassischer Oldtime-Formationen wurde. Das hängt in diesem Fall  - anders als beim "Sidewalk Blues" - sicher auch mit der komplexen Melodieführung zusammen.
Damit soll mein kleiner Ausflug in ein Strukturprinzip Morton`scher Gestaltungskunst beendet sein. Wenn ich es richtig sehe, wurde diese Verbindung zwischen "Sidewalk Blues" und "The Pearls" bisher nicht hergestellt. In einem weiteren Beitrag werde ich demnächst einige weitere Aspekte des "Sidewalk Blues" beleuchten............




Soviel für heute.

Herzlich Euer
Heribert von Stomp